Zum inter­na­tionalen Welt-Autismus-Tag vom 2. April spricht Petra Baeschlin, Heilpäd­a­gogin und Lei­t­erin der ASS-Lern­werk­statt, über die Her­aus­forderun­gen im All­t­ag von autis­tis­chen Schüler*innen. Ein Inter­view über Autismus und dessen Akzep­tanz in der Gesellschaft.

Liebe Petra, tagtäglich set­zt du dich für autis­tis­che Men­schen ein. Was haben sie alle gemeinsam?

Es gibt nicht «den Autis­ten». Autist*innen sind in erster Lin­ie Men­schen wie du und ich – und jed­er Men­sch ist anders. Den­noch besitzen autis­tis­che Men­schen alle eine beson­dere Aus­prä­gung, was die Wahrnehmung und Wahrnehmungsver­ar­beitung betrifft.

Wie muss man sich das vorstellen?

Ihnen fehlt eine Art Fil­ter, um die vie­len ver­schiede­nen Reize aus der Umwelt einzuord­nen und zu ver­ar­beit­en. Das heisst, sie erleben Reize viel inten­siv­er als wir – das gilt etwa für Gerüche, Geräusche, Berührun­gen oder auch Lichte­in­flüsse. Je nach autis­tis­ch­er Aus­prä­gung kann eine Berührung sog­ar als Schmerz wahrgenom­men wer­den. Das ist also nicht zu unterschätzen!

Wie geht ihr im Schu­lall­t­ag damit um?

Als wichtige Voraus­set­zung bieten wir den autis­tis­chen Schüler*innen bedürfnis­gerechte Räum­lichkeit­en an: San­fte Far­ben bilden eine beruhigte Ler­numge­bung. Ele­mente wie Vorhänge schluck­en laute Geräusche und wir haben dimm­bare Lichter ver­baut, um auf Überempfind­lichkeit­en reagieren zu kön­nen. Ausser­dem struk­turi­eren wir unsere Räum­lichkeit­en für unter­schiedliche Lern­si­t­u­a­tio­nen. Es ist ersichtlich, wo Bewe­gung, ruhiges Ler­nen, Grup­pe­nun­ter­richt, soziales Ler­nen oder Aus­ruhen stat­tfind­en kann. Auch die Wochen bzw. Stun­den sind vorstruk­turi­ert und Übergänge gekennze­ich­net; der All­t­ag muss für Autist*innen vorherse­hbar und berechen­bar sein. Die Struk­turen sind also an die Schüler*innen angepasst, nicht umgekehrt.

«Ungeschriebene Regeln der Interaktion müssen sie lernen, wie eine Fremdsprache»

Der All­t­ag scheint bere­its eine Her­aus­forderung zu sein. Wie stark prägt Autismus den Alltag?

Auch hier gilt: Jed­er Men­sch ist anders. Im Aus­tausch mit autis­tis­chen Per­so­n­en erfahre ich aber oft, wie anstren­gend der «nor­male» All­t­ag ist. Von Autist*innen wird laufend eine Anpas­sungsleis­tung erwartet. Baustel­len­lärm, üble Gerüche im Zug oder das Stim­mengewirr am Bahn­hof fordern bere­its viel Energie, nur um zur Schule oder zur Arbeit zu gelan­gen. Schwierigkeit­en kön­nen sich aber auch in der sozialen Kom­mu­nika­tion und Inter­ak­tion zeigen. Beispiel­sweise um der gesellschaftlichen Vorstel­lung ein­er sozialen Inter­ak­tion gerecht wer­den zu können.

Und wie zeigen sich diese Schwierigkeiten?

Autist*innen kön­nen non­ver­bales Ver­hal­ten oft nicht lesen. Bei einem unbekan­nten Gegenüber haben sie Mühe, ein Gespräch zu begin­nen oder aufrecht zu erhal­ten. All die ungeschriebe­nen sozialen Regeln der Inter­ak­tion und Kom­mu­nika­tion müssen sie ler­nen, wie eine Art Fremd­sprache. Vor allem Mäd­chen und Frauen ler­nen oft durch Beobacht­en und begin­nen Ver­hal­tensweisen zu imi­tieren. Betrof­fene sprechen von ver­schiede­nen «sozialen Gewän­dern», die sie je nach sozialer Sit­u­a­tion her­vornehmen. Das erfordert von der betrof­fe­nen Per­son aber enorm viel Energie! Auch kann sich eine Art «Kon­textblind­heit» zeigen.

Standort Brunau

Was ist mit Kon­textblind­heit gemeint?

Das bedeutet, Autist*innen kön­nen Wis­sen um eine Sit­u­a­tion nicht auf andere soziale Sit­u­a­tio­nen über­tra­gen. Sie erfahren beispiel­sweise von ein­er Bezugsper­son, dass Weinen aus Trauer geschieht. Sie ler­nen das Gesicht entsprechend zu deuten. Weint dann aber eine Medail­lengewin­ner­in aus pur­er Freude, erken­nen sie den Unter­schied nicht auf Anhieb – der Kon­text des Gewinns bleibt ihnen ver­bor­gen. Da kann es hil­fre­ich sein, wenn eine andere Per­son den «Kon­tex­tknopf» drückt und die Sit­u­a­tion übersetzt.

Und den­noch darf man der beson­deren Wahrnehmung durch Autismus auch Pos­i­tives abgewin­nen. Erken­nen autis­tis­che Men­schen ihre eige­nen Stärken?

Wenn die Kinder zu uns kom­men, kön­nen sie ihre autis­tis­chen Züge meist noch nicht einord­nen und die eige­nen Fähigkeit­en noch nicht als solche erken­nen. Eine wichtige Auf­gabe von uns ist deshalb, dass wir die Schüler*innen dabei unter­stützen, ihre Poten­ziale zu erken­nen und ihre Stärken anzuwenden.

«Es wird Zeit, dass wir Autismus als Neurodiversität erkennen.»

Wie schätzt du die Akzep­tanz von Autismus ein?

Obwohl Autismus über­haupt kein neuzeitlich­es Phänomen ist, fällt auf, wie Autismus an Aufmerk­samkeit gewon­nen hat – öffentliche Per­sön­lichkeit­en wie beispiel­sweise Gre­ta Thun­berg sprechen darüber, Net­flix the­ma­tisiert das The­ma in Serien. Es wird aber Zeit, dass wir Autismus als Neu­ro­di­ver­sität erken­nen und nicht weit­er­hin als Behin­derung abstempeln.

Liegt also noch viel Arbeit vor uns?

An erster Stelle ste­ht die Bere­itschaft, jedem Men­schen eine Teil­habe am sozialen Zusam­men­leben zu ermöglichen. Das set­ze ich jet­zt mal voraus. Das erfordert dann aber auch Wis­sen und finanzielle Mit­tel, um den Bedürfnis­sen gerecht zu wer­den. Und nicht zulet­zt braucht es ein gegen­seit­iges Verständnis.

Wie ste­ht es um die Akzep­tanz von Autismus in der Arbeitswelt?

Auch dort erken­nen wir, dass sich etwas bewegt. Wir arbeit­en daran, die Beruf­swelt auf autis­tis­che Mitar­bei­t­ende zu sen­si­bil­isieren. Schliesslich kann die beson­dere Konzen­tra­tion auf eine Tätigkeit, wie sie Autist*innen manch­mal haben, je nach Berufs­feld sehr gewinnbrin­gend sein.

Was schätzt du beson­ders an der Zusam­me­nar­beit mit autis­tis­chen Schüler*innen?

Sie sind sehr ehrlich. Sie lesen und sprechen nicht zwis­chen den Zeilen und das finde ich erfrischend und bewundernswert.

Vie­len Dank für das Interview.

Zur Person

Petra Baeschlin ist Lei­t­erin der ASS-Lern­werk­statt im Schul­haus Brunau der sozialpäd­a­gogis­chen Schule for­mi­da­bel. Als Klassen­lehrper­son und aus­ge­bildete Heilpäd­a­gogin blickt sie auf diverse Beruf­ser­fahrun­gen in Schulen und im Son­der­schul­bere­ich zurück. Ausser­dem arbeit­ete sie als Dozentin und Bera­terin zur Umset­zung des lösung­sori­en­tierten Ansatzes und gelangte 2013 als Schul­coach zur Inte­gra­tiv­en Son­der­schu­lung der sozialpäd­a­gogis­chen Schule formidabel.

Im Rah­men ihrer Tätigkeit­en traf sie immer wieder auf autis­tis­che Men­schen, für die sie ein ver­ständ­nisvolleres und passenderes schulis­ches Umfeld gewün­scht hätte. Nach Aus- und Weit­er­bil­dun­gen hat Petra Baeschlin ein spez­i­fis­ches Ange­bot für Ler­nende mit Autismus im Son­der­schulset­ting ent­wor­fen und aufge­baut. Sei­ther set­zt sie sich als Stel­len­lei­t­erin der ASS-Lern­werk­statt und als Ref­er­entin an Schulen und Fach­ta­gun­gen für die Bedürfnisse von Schüler*innen mit Autismus und deren Fam­i­lien ein.

Autismus

Der Begriff «Autismus» wurde erst­mals um 1943 ver­wen­det, um Kinder mit ein­er Entwick­lungsstörung zu beschreiben. Autismus ist ein Spek­trum: Das bedeutet, dass autis­tis­che Men­schen sich sehr voneinan­der unter­schei­den. Heute wird der Fach­be­griff Autismus-Spek­trum-Störung ver­wen­det (ASS).